ḥnr(Lemma-ID 854746)
Persistente ID:
854746
Persistente URL:
https://thesaurus-linguae-aegyptiae.de/lemma/854746
Lemma-Liste: Hieroglyphisch/Hieratisch
Wortklasse: Substantiv (mask.)
Übersetzung
Bezeugung im TLA-Textkorpus
9
Belegzeitraum im TLA-Textkorpus:
von
1818 v.Chr.
bis
30 v.Chr.
Schreibungen im TLA-Textkorpus:
Bibliographie
-
MedWb 583
- vgl. Müller, OLZ 97, 2002, 41
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(Vollzitation)"ḥnr" (Lemma-ID 854746) <https://thesaurus-linguae-aegyptiae.de/lemma/854746>, ediert von Altägyptisches Wörterbuch, unter Mitarbeit von Simon D. Schweitzer, Andrea Sinclair, Annik Wüthrich, Amr El Hawary, in: Thesaurus Linguae Aegyptiae, Korpus-Ausgabe 19, Web-App-Version 2.2.0, 5.11.2024, hrsg. von Tonio Sebastian Richter & Daniel A. Werning im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Hans-Werner Fischer-Elfert & Peter Dils im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Zugriff am: xx.xx.20xx)(Kurzzitation)
https://thesaurus-linguae-aegyptiae.de/lemma/854746, in: Thesaurus Linguae Aegyptiae (Zugriff am: xx.xx.20xx)
- ḥnr, auch in der Graphie ḥꜣrr: Belegt als Substantiv und vielleicht als Verb (s. Müller, in: OLZ 97, 2002, Spalte 39). Wird einerseits als „schielen“ (gemäß Wb.), andererseits (ab Chassinat, 1921; Ebbell 1938; MedWb 1962) als „Schwachsichtigkeit, schwachsichtig sein“ interpretiert. Die Bestimmung der Augenkrankheit als „Sehschwäche, Amblyopie“ hängt mit der Gleichsetzung mit koptisch ϩⲗⲟⲗ „Dunkelheit, Finsternis“ zusammen. Die (deutsche) Bedeutung „Schwachsichtigkeit o.ä.“ geht zurück auf B. Ebbell, Alt-ägyptische Bezeichnungen für Krankheiten und Symptome, Oslo 1938, 31-32, der mit bohairisch ϩⲗⲟⲗ verglichen hat, das nach damaligem Stand der Koptologie „Schwachsichtigkeit o.ä.“ bedeutet. Ebbell selbst beruft sich auf Chassinat, Un papyrus médical copte, 1921, 71-73. Chassinat nennt ϩⲗⲟⲗ die bohairische Version von ϩⲗⲟⲥⲧⲛ, das keinen vollständigen Verlust des Augenlichts bedeutet, sondern mit dem Symptom „nuage, brouillard, obscurcissement de la vision“ einhergeht. Er entscheidet sich dafür, dass ϩⲗⲟⲥⲧⲛ und ϩⲗⲟⲗ das koptische Äquivalent von griechisch ἀμβλυωπία sind (anderen griechischen Augenleiden, die mit ϩⲗⲟⲗ übersetzt werden [siehe Crum, CD, 668b-669a], ordnet er andere koptische Krankheiten zu). Chassinat nennt ḥrr und Var. als Vorläufer von ϩⲗⲟⲗ und versteht es vor allem auf der Grundlage von pAnastasi IV, Kol. 12.7-8 und pSallier I, Kol. 5.9 als „le trouble qui survient dans la vision lorsque les yeux se sont fixés longuement et de façon continue sur un même objet“. Für ihn ist das ältere ägyptische ḥrr daher ein Symptom und keine Krankheit (Amblyopie = Schwachsichtigkeit, eine Art von Sehminderung). Lefebvre, Médecine égyptienne, 70 und 82 übersetzt ḥꜣrw französisch mit „amblyopie“.
ḥrr ist in Wb. 3, 115.4-5 s.v. ḥnr/ḥl: „schielen (auch als Augenleiden); scheel sehen auf jem. (fig.)“ eingetragen. Die übertragene Bedeutung „scheel sehen auf jem.“ ist altmodisch und bedeutet „beneiden; eifersüchtig, missgünstig, neidisch schauen auf“. Im Grundriss der Medizin findet sich ḥnr/ḥrr in MedWb II, 583-584 s.v. ḥꜣrw „Schwachsichtigkeit“ bzw. ḥꜣr „schwachsichtig sein“. Hannig, HWB, 542 kombiniert oben genannte Übersetzungen: s.v. ḥꜣrw/ḥl: „Schwachsichtigkeit“ und s.v. ḥꜣrw. „schwachsichtig sein; *schielen; scheel blicken (fig.)“ (* = unsicher). Das Wort ist ein semitisches Lehnwort, das möglicherweise im Demotischen und Koptischen weiterlebt. Hoch, Semitic Words, 230-231, Nr. 320 hat „to squint, have strabismus; to long for, eye with envy“ (Bedeutungen gemäß Wb.) und setzt es mit der semitischen Wurzel ḥwl: „to turn“ gleich, für das es im Syrischen und Arabischen Ableitungen mit der Bedeutung „Schielen“ bzw. als Krankheitsbezeichnung „Strabismus“ gibt (bei Satzinger und Stefanović, Egyptian Root Lexicon, 256 auf ḥl „to darken“ zurückgeführt). Die Schreibung ḥrr passt zu demotisch ḥlly (Erichsen, Glossar, 328: „Trübung, Finsternis“) und koptisch ϩⲗⲟⲗ (Crum, 668b: „darkness“). Černý, 279 vergleicht (!) ϩⲗⲟⲗ „darkness“ mit ḥnr/ḥnrr/ḥrr „to squint“. Westendorf, KHWB, 366 akzeptiert eine Identität von ϩⲗⲟⲗ und ḥnrr/ḥrr und Westendorf, KHWB, 565 von ϩⲁⲗ „Betrug“ mit ḥnr/ḥl: „schielen, scheel sehen“. Vycichl, DELC, 297b und Hoch, 231 lehnen die Gleichsetzung des älteren Ägyptischen aus semantischen Gründen ab und akzeptieren nur die Gleichsetzung von dem. ḥlly mit ϩⲗⲟⲗ. Verzichtet man auf die Übersetzung „schielen“ zugunsten von „schwachsichtig sein“, fällt die semantische Hürde jedoch weg. Die von Hoch, Semitic Words, Nr. 320 zusammengetragenen Belege für Substantiv und Verb werden von Müller, in: OLZ 97, 2002, Spalte 39 auf mehrere homographe Wörtern verteilt. Westendorf, Handbuch, 151 übersetzt mit „Schwachsichtigkeit“ (nach Grundriss) und verweist für die Bedeutung „Schieläugigkeit“ auf Leitz, Magical and Medical Papyri, 64, Anm. 117, der jedoch mit „poor sight“ übersetzt. Fischer-Elfert, Magika Hieratika, 279 hat „Schwachsichtigkeit“. Daumas & Ghalioungi, Représentations de maladies oculaires, in: CdE 51, 1976, 20-22 lehnen die Übersetzung „Strabismus“ ab, akzeptieren für eine Reihe von Textbelegen die Bedeutung „Schwachsichtigkeit“, aber gerade die übertragene Bedeutung in pAnastasi IV, Kol. 12.7-8 und pSallier I, Kol. 5.9 passt nicht dazu, so dass sie auf einen endgültigen Übersetzungsvorschlag verzichten. Caminos, LEM, 191-192 (zu pAnastasi IV, Kol. 12.7-8) erklärt diese beiden Belege nicht als übertragene Bedeutungen des Verbs, sondern als idiomatische Verwendungen der Wunschpartikel ḥꜣ/ḥnr (zögerlich akzeptiert von Müller, in: OLZ 97, 2002, 39).
Frühe ägyptologische Literatur zum Wort bei Chabas, Voyage d’un Égyptien, 249 („la fatigue de l’oeil qui refuse de regarder, qui s’oppose à la vision“); Brugsch, Hierogl.-dem. Wb. 3, 1868, 923-924 („zum Spott wohin sehen, zum Scherz ausschauen, vergeblich ausschauen“) und 6, 1881, 779 („bekümmert auslugen nach“).
P. Dils, 06.04.2022
Autor:in des Kommentars: Peter Dils